Musik der Renaissance: Das italienische Madrigal - »Musica reservata«

Musik der Renaissance: Das italienische Madrigal - »Musica reservata«
Musik der Renaissance: Das italienische Madrigal - »Musica reservata«
 
Der Begriff »Renaissancemusik«, der auf die frankoflämische Epoche als Ganze nur mit Vorbehalt anzuwenden ist, charakterisiert jedoch treffend eine ihrer faszinierendsten Gattungen, das italienische Madrigal des 16. Jahrhunderts. Auch hier meint »Renaissance« nicht Wiedergeburt antiker Musikpraxis, wohl aber eine ästhetische und gesellschaftliche Haltung, die, angeregt durch die Antike, eine dichterisch-musikalische Kunstform von hoher Qualität und geschichtlicher Ausstrahlung hervorgebracht hat. Im Umfeld einer solchen Renaissancehaltung entwickelte sich das Madrigal zu einem Medium freier, autonomer Gestaltung und zu einem Experimentierfeld kühner Kompositionstechniken, die den monodischen Stil des Frühbarock unmittelbar vorbereiteten.
 
Die Entstehung und Vorrangstellung des Madrigals wurde von einer Reihe zusammenwirkender Faktoren begünstigt. Anders als die volkssprachlichen Gattungen Frankreichs und Deutschlands, die Chanson und das Lied, richtete es sich von Anfang an auf die Vertonung hochstehender italienischer Dichtung. Förderlich war ihm ferner das gesellschaftliche Klima italienischer Fürstenhöfe, ihr Ehrgeiz, die besten Künstler an sich zu ziehen, und ihre antikisierende Freude an der Huldigung großer Sänger und Dichter. Schon im 15. Jahrhundert gab es hier eine intensive Pflege improvisierten Gesangs zur Laute oder zur Viola, und die berühmtesten Vertreter dieser Kunst wurden als moderne Nachfahren des griechischen Dichtersängers Orpheus geehrt und gekrönt. Raffaels Apollo im Zentrum des »Parnass« in der Stanza della Segnatura des Vatikans und ähnliche Darstellungen zeigen den Niederschlag solcher Sängerverehrung in der bildenden Kunst.
 
In enger Beziehung hierzu steht möglicherweise eine der Vorformen des Madrigals, die oberitalienische Frottola. Sie war eine höfische Gattung und vertonte die etablierten Formen italienischer Lyrik wie Ballata, Canzonetta, Strambotto, Sonett, Canzona und Madrigal. Musikalisch schlicht, weitgehend homophon, als Sologesang mit drei begleitenden Instrumenten, lässt die Frottola bereits die einfühlsame Nachzeichnung des dichterischen Wortes erkennen, die in der Madrigalgeschichte zu einem zentralen Kriterium der Gattung wurde.
 
Eine andere volksmusikalische Tradition bilden die Canti carnascialeschi in Florenz, homophone Freiluftgesänge für Feste und Umzüge, bei denen alle Stimmen gesungen, oft aber durch Instrumente verstärkt wurden. Eine höfische Verfeinerung dieses Typus, sorgfältiger durchgearbeitet und mit anspruchsvollem Text, ist in den Kompositionen Bernardo Pisanos und anderer Florentiner Musiker im ersten Individualdruck volkssprachlicher Musik (1520 bei Petrucci in Fossombrone) überliefert. Sie gelten als unmittelbare Übergangsform zum eigentlichen Madrigal.
 
Florenz, die Renaissancestadt der Medici-Fürsten, schuf ideale Bedingungen zur Entstehung der neuen Gattung. Kunst und Kultur standen hier in höchster Blüte. Dichter und Philosophen bemühten sich um zeitgenössische ästhetische Ausdrucksformen im Geist der Antike. Hier lebte seit 1522 der Franzose Philippe Verdelot der, vertraut mit der durchimitierenden Motette und der sprachorientierten Chanson, die volkstümlichen italienischen Gesänge aufgriff und zum kunstvollen Madrigal zusammenfasste. Verdelots um 1535 in Venedig gedruckten Madrigalen folgten wenige Jahre später, ebenfalls in Venedig, fünf Madrigalbücher (1538-44) des in Rom lebenden Niederländers Jacob Arcadelt, die bereits an einfache Madrigalkompositionen des Römers Costanzo Festa anknüpfen konnten. Kennzeichnend für diese erste Phase der Gattung ist eine durchgebildete Linearität der vier Stimmen. Der Satz ist jedoch schlichter und klangintensiver als in der Motette, oberstimmenbetont, zeilenweise gegliedert und mit feinfühliger Rhythmik und Melodik auf das Dichterwort ausgerichtet. Frankoflämische Kunst hat sich hier ohne Bruch der einheimischen Gesangstradition und Poesie assimiliert und eine eigenständig italienische Renaissancegattung begründet.
 
Zu einem ersten Höhepunkt gelangte das Madrigal in Venedig durch Adrian Willaert und seinen Nachfolger als Kapellmeister an San Marco, Cypriano de Rore. Die erlesene Lyrik Petrarcas und späterer Dichter (Ariosto, Guarini, Marino) regte die Komponisten zu immer subtileren Gestaltungen an. Forderungen Pietro Bembos, die Dichtersprache zu musikalisieren, und der Einfluss von Künstler- und Gelehrtenakademien nach antikem Vorbild rückten das Madrigal in die Sphäre elitärer Kunstübung der Spätrenaissance. Fünfstimmigkeit wird jetzt die Regel. Kontrapunktik und affekvolle Expressivität steigern sich im Dienst differenziertester Textausdeutung, zu der jede der virtuos solistisch geführten Stimmen mit sprechender, kontrastreicher Melodik beiträgt. Freiheit und Kühnheit einzelner Wendungen, der »Madrigalismen«, korrespondieren mit neuen, individuellen Stilhaltungen, die sich in einer Fülle von Madrigaldrucken einzelner Komponisten nach 1550 spiegeln.
 
Eine wichtige Rolle spielte dabei die Einstellung und Erwartung gebildeter Musikenthusiasten, die diese wortausdeutende Kunst tiefer und vollständiger zu verstehen glaubten als der Durchschnittshörer. In solchen Kreisen prägte sich der Begriff »Musica reservata«, nachweisbar erstmals im Titel einer Motettensammlung von Adrianus Petit Coclico und im Vorwort seines »Compendium musices« (1552). Er bezieht sich auf auffällige, auch satztechnisch verschlüsselte, jedenfalls nur dem Kenner bemerkbare affettuose oder gedankliche Gehalte der zeitgenössischen Vokalmusik.
 
Allerdings hat »Musica reservata« noch weitere Bedeutungen. So sprechen Nicola Vicentino und andere Autoren in diesem Zusammenhang die verstärkte Chromatik an, die einerseits ebenfalls dem neuartigen Textausdruck dient, andererseits auf die Musik der Antike verweist, da es dort ebenfalls ein »chromatisches Tongeschlecht« gegeben habe (das jedoch etwas ganz anderes bezeichnet als die Chromatik im 16. Jahrhundert). Schließlich werden sogar komplizierte kontrapunktische Strukturen der »Musica reservata« zugeordnet, sodass sich insgesamt kein einheitliches Bild ergibt und der Begriff wohl eher als Kennwort innerhalb eines sozial gehobenen, quasi eingeweihten Sprechens über das Besondere zeitgenössischer Musik zu verstehen ist.
 
In der Geschichte des Madrigals ist dieses Besondere der Textdarstellung wesentlich an einer immer eigenwilligeren Harmonik abzulesen, die, verbunden mit Dissonanzhäufung und Chromatik, im Dienste des Ausdrucks als bewusste Übertretung der geltenden Kompositionsregeln eingesetzt wurde. Bei den führenden Komponisten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Orlando di Lasso, Philippe de Monte, der über 1000 Madrigale schrieb, bei dem Venezianer Andrea Gabrieli, und dem Mantuaner Giovanni Gastoldi, der die Entwicklung in Deutschland und England stark beeinflusste, wird harmonisch Auffälliges dieser Art stets konstruktiv noch in das Werkganze eingebunden. Erst in seiner letzten Periode, die bis etwa 1620 reicht, avancierte das polyphone Madrigal in äußerster Steigerung zum Experimentierfeld kühnster Wagnisse und Freiheiten. Luca Marenzio, Claudio Monteverdi und der exzentrische Fürst von Venosa Don Carlo Gesualdo repräsentieren diese Spätphase, in der auch extreme dichterische Inhalte von glühender Ekstase bis zu morbider Weltflucht zur Darstellung kamen.
 
Durch seine betonte Modernität wurde das Madrigal wegweisend für die Neuerungen der Monodie um 1600. Angeregt durch die konzertanten Madrigale des in Ferrara und Mantua wirkenden Niederländers Giaches de Wert und des Hoforganisten und Kathedralkapellmeisters von Mantua Luzzasco Luzzaschi vollzog Monteverdi seit seinem fünften Madrigalbuch (1605) ausdrücklich den Übergang vom fünfstimmigen zum solistischen, generalbassbegleiteten Madrigal, das als Vorläufer der Kantate bereits der Stilhaltung des Frühbarock verpflichtet ist. Im Vorwort zum fünften Madrigalbuch formulierte er auch erstmals den programmatischen Begriff der »Seconda pratica« für eine am Wort, an der Wahrheit des Darzustellenden orientierte Kompositionsweise, die die Regeln des Kontrapunkts zugunsten des Ausdrucks durchbrechen darf.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Besseler, Heinrich: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Lizenzausgabe Laaber 1979.
 Bowles, Edmund A.: Musikleben im 15. Jahrhundert. Leipzig 21987.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • italienische Musik. — italienische Musik.   Im Konzert der europäischen Musik spielt die italienische Musik von Anbeginn bis heute eine hervorragende Rolle. Ihr Hauptmerkmal ist das gesangliche, melodische Moment. Zahlreiche Arten und Gattungen der Vokalmusik… …   Universal-Lexikon

  • Renaissance — Comeback; Rückkehr; Wiedergeburt; Auferweckung; Wiederauferstehung; Wiederauflebung * * * Re|nais|sance [rənɛ sã:s], die; , n: 1. <ohne Plural> historische Epoche (im 14. Jahrhundert von Italien ausgehend), die auf eine Wiederbelebung der… …   Universal-Lexikon

  • Musik — Töne; Klänge; Tonkunst * * * Mu|sik [mu zi:k], die; , en: 1. <ohne Plural> Kunst, Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit hinsichtlich Rhythmus, Melodie, Harmonie zu einer Gruppe von Klängen und zu einer Komposition zu ordnen: klassische,… …   Universal-Lexikon

  • Madrigal — ◆ Ma|dri|gal 〈n. 11〉 1. 〈Mus.〉 1.1 〈urspr.〉 Hirtenlied 1.2 〈14. Jh.〉 italien. Kunstlied ohne feste stroph. Form 1.3 〈16. Jh.〉 mehrstimmiges, durchkomponiertes Lied in drei Terzetten u. zwei Verspaaren, mit od. ohne Musikbegleitung 2. satir.… …   Universal-Lexikon

  • Arcadelt — Jakob Arcadelt (auch: Jachet Arkadelt, Archadelt, Hercadelt, Arcadet und Arcadente auch Jacobus Flandrus in päpstlichen Abrechnungsbüchern; * 1504, 1506 oder (unwahrscheinlicher) 1514; † nach 1562, möglicherweise 4. Oktober 1568 in Paris war ein… …   Deutsch Wikipedia

  • Jacob Arcadelt — Jakob Arcadelt (auch: Jachet Arkadelt, Archadelt, Hercadelt, Arcadet und Arcadente auch Jacobus Flandrus in päpstlichen Abrechnungsbüchern; * 1504, 1506 oder (unwahrscheinlicher) 1514; † nach 1562, möglicherweise 4. Oktober 1568 in Paris war ein… …   Deutsch Wikipedia

  • Jacques Arcadelt — Jakob Arcadelt (auch: Jachet Arkadelt, Archadelt, Hercadelt, Arcadet und Arcadente auch Jacobus Flandrus in päpstlichen Abrechnungsbüchern; * 1504, 1506 oder (unwahrscheinlicher) 1514; † nach 1562, möglicherweise 4. Oktober 1568 in Paris war ein… …   Deutsch Wikipedia

  • Lassus — Orlando di Lasso Orlando di Lasso (* 1530 oder 1532 in Mons im Hennegau; † 14. Juni 1594 in München; auch Orlande oder Roland de Lassus; auch lat. Rolandus Lassus – Orlando selbst unterschrieb oft in einer Mischform dieser Versionen) war einer… …   Deutsch Wikipedia

  • Orlande de Lassus — Orlando di Lasso Orlando di Lasso (* 1530 oder 1532 in Mons im Hennegau; † 14. Juni 1594 in München; auch Orlande oder Roland de Lassus; auch lat. Rolandus Lassus – Orlando selbst unterschrieb oft in einer Mischform dieser Versionen) war einer… …   Deutsch Wikipedia

  • Orlandus Lassus — Orlando di Lasso Orlando di Lasso (* 1530 oder 1532 in Mons im Hennegau; † 14. Juni 1594 in München; auch Orlande oder Roland de Lassus; auch lat. Rolandus Lassus – Orlando selbst unterschrieb oft in einer Mischform dieser Versionen) war einer… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”